Die Stunde der Katze
Die Nacht auf den Montag bringe ich fast schlaflos zu. Ich schlafe immer schlecht, wenn ein neues Schuljahr beginnt. Die Sommerferien waren wie üblich zu kurz, um alle Schulkinder loszulassen, für die man zwei Jahre lang die Verantwortung hatte.
So kreisen meine Gedanken um meine Zukunft, die immer kleiner wird zur derjenigen der Schulkinder, die am kommenden Tag neu zu mir in die dritte Klasse treten werden.
Lange nach Mitternacht wandere ich in meinem Häuschen herum. Es ist unerträglich heiss, die Nacht schwer von der Hitze, das Sandmännchen noch aufgeregt von seiner Reise über das Mittelmeer.
Die Kirchenglocken klingen in der Nacht lauter. In meiner Umgebung befinden sich drei Kirchen und ich strenge mich an, mit meinem Gehör weiteres Glockengeläut aufzuspüren, als ich endlich in einen unruhigen Schlaf falle und ich nicht wie üblich vor dem Wecker erwache.
Mein Wecker schläft nämlich genau nach Programm. Um 5.29 Uhr piepst er, und ich mach mir einen Sport draus ihn jeweils abzustellen, bevor sein Tuten in einem nervöseren Rhythmus ertönt.
Am Montagabend bin ich todmüde.
Zu müde, um einzuschlafen. Ich höre das Glockengeläute, jeder Schlag dröhnt in meinen Ohren und beim Zwölften knipse ich resigniert meine Nachttischlampe an, um etwas zu lesen.
Nach einer halben Stunde lösche ich das Licht wieder aus und schliesse die Augen. Nein, jetzt nur nicht die Nerven verlieren, ganz ruhig liegen bleiben.
Entspannen.
Versuch es mit Selbsthypnose.
Es geht dir prächtig.
Du hast ein schönes Leben.
Du bist dich am Entspannen.
Morgen ist alles super.
Es geht dir gut.
Du bist ein Mensch, der ohne Schlaf auskommt.
Ich schüttle das Kopfkissen neu auf, streiche die Decke glatt und lege mich ganz konzentriert auf die linke Seite. Die Nacht ist eingeschlafen – ich liege wach.
So ein Stündlein wäre halt schon noch nett.
So ganz ohne Schlaf geht es halt doch nicht.
War das jetzt 1 Uhr, das es geschlagen hat?
Woher kommt jetzt plötzlich diese vierte Kirche?
Entspann dich.
Denk was Schönes
Morgen scheint die Sonne.
Du liebst heisses Wetter.
Du kannst in den See baden gehen.
Geh schwimmen auf dem Weg zur Arbeit!
Freu dich aufs Velofahren!
Ich sollte das Velo reparieren lassen!
Jetzt nicht dran denken!
Nur Positives.
Warum sind es jetzt nur noch zwei Kirchen, die zwei Uhr schlagen?
Was ist mit diesen Kirchen los?
Wo ist meine Katze?
Plötzlich bin ich hellwach.
Ein Weinkrampf hat mich geschüttelt.
Ich stehe auf, schaue aus dem Fenster in die sternenerhellte Nacht und rufe nach meiner Katze. Ganz leise, nur für die Katze hörbar.
Angestrengt schaue ich hinaus, schaue durch die Häuser hindurch und meine Gedanken fliegen in die Nacht. Sie spüren die Katze, die Luft ist von ihrem Geruch durchdrungen. Sie ist von ihrer Verzweiflung erfüllt. Sie ist hier draussen, in Hörweite muss sie sein, aber sie kann nicht nach Hause.
Eine Welle des Elends erreicht mich. Ich muss erneut weinen, denn ich habe die dumpfe Gewissheit, dass ihr etwas passiert ist.
Ist sie nicht schon am Morgen entgegen ihrer Gewohnheit nicht zum Frühstück erschienen?
Ich versuche mich zu erinnern.
Nein, Zücchin ist am Morgen nicht wie gewohnt mit lautem Klappern durch die Katzentüre geschlüpft und hat vor dem leeren Futternapf gewartet. Er war auch abends nicht zum Fressen gekommen,aber dem schenkte ich weniger Beachtung, da der Kater sich in der freien Natur gut zurechtfindet und wohl den lauen Sommerabend für ein Katzentreffen ausnützen wollte.
Ich gehe in die Küche, gehe auf die Strasse, rufe ganz leise nach seinem Namen, um nicht die ganze Nachbarschaft aufzuwecken.
Um drei Uhr morgens liege ich wieder in meinem Bett mit der schrecklichen Vorahnung, dass die Katze tot ist. Ich hoffe noch, dass es nur meine übertriebene Vorstellungskraft ist, die mich solch Schreckliches erahnen lässt. Ich liebe Übertreibungen vieler Art und Weisen, und habe übernatürliche Kräfte, wenn es darum geht, Gedankenverbindungen herzustellen.
Es klappte. Es funktionierte auch in dieser Nacht. Ich rief mit meinen Gedanken so eindringlich nach meiner Katze, dass diese begann, sich nach Hause zu schleppen. Ich kenne den Zeitpunkt nicht, wo sie angefahren wurde. Irgendwann in dieser Nacht, vielleicht in diesem Moment, und sie hatte sich mit einem gebrochenem Wirbel und einem zerstörten Becken zum Sterben ins Gras gelegt. Ihr Schwanz hing schlaff herunter, gelähmt wie auch die Blase, die sich zu füllen begann und die Katze vergiftete.
Dann schleppte sie sich nach Hause, Zentimeter für Zentimeter, und wurde am Mittag von einer Spaziergängerin auf dem Fussweg wenige Meter vor meinem Haus gefunden.-
Sie brachte die Katze zum Tierarzt.
Ich sah dort Zücchin am Abend. Der Kater war kathetrisiert worden, da er sonst die Zeit bis zu meinem Eintreffen nicht überlebt hätte. Wie freute sich die Katze, als ich sie streichelte. Das war fast unerträglich, sie daliegen zu sehen, scheinbar auf dem Weg zur Genesung und doch dem Tod geweiht. Die Tierärztin sprach von möglichen Operationen und mir zerriss es das Herz. Nein, ich wollte eine Zweitmeinung abwarten. Die Katze hätte zwar dank ihrer guten Konstitution manchen Eingriff überlebt, aber sie wäre kaum genesen. Wer verspricht mir, dass sie wieder auf der Pergola herumturnen kann? Dass sie wieder völlig durchnässt mit einem Fisch hereinstolziert kommt, den sie aus dem nahen Weiher geangelt hat?
Da liegt meine Katze mit einem Blasenkatheter, aus dem der Urin herauslaufen kann, eine Pfote blau einbandagiert. Sie schnurrt, will sich sogar auf den Rücken legen, als ich die Hand auf ihren Bauch lege, obwohl ihr Becken gebrochen ist. Ich warte auf meine Freundin, eine Tierärztin, die sich die Röntgenbilder der Katze zeigen lässt.
Es sieht nicht gut aus. Ein Wunder, wie sie sich überhaupt so auf den Rücken legen konnte, um sich von mir liebkosen zu lassen. Kein Knochen im Becken ist annähernd dort, wo er sein sollte. Das würde sie vielleicht noch überleben, wäre vielleicht leicht behindert und würde das Leben lang hinken, wenn die Knochen zusammengewachsen wären. Die Zeit verheilt Wunden. Nicht aber diese Fraktur vom Wirbel. Bis über die Hälfte eingerissen, das Rückenmark durchtrennt, zu weit oben, um nur den Schwanz zu betreffen, der nicht mehr auf Schmerz reagiert, sondern auch die Blase, die keine selbständige Funktion mehr ausführen kann. Der Kater reagiert nicht auf Schmerz, wenn er in die Hoden gekniffen wird.
Operieren kann man immer – mit Geld kann man viel machen, aber man kann keine Wunder wirken.
Ist meine Katze ein Lazarus? Will sie das sein?
Nehme ich der Katze die noch so kleinste Chance auf eine Heilung oder erspare ich ihr einen Leidensweg, der im besten Fall damit enden würde, dass ich aus meinem stolzen freiheitsliebenden Kater eine gelähmte Hauskatze machen würde, der ich zweimal täglich die Blase ausmassieren müsste?
Die Gewissheit kann mir niemand geben. Das Gewissen bleibt nur mir allein.
Ich habe meine Katze erlösen lassen, hab ihren Kadaver auf dem Gepäckträger transportiert – weg von all den medizinischen Verlockungen auf ewiges Leben.